Seit seiner Gründung 1984 bin ich Mitglied des Vereins 'Forum für Schmuck und Design e. V.' in D-Bonn/Köln. ffsd.de
Mit regelmässigen thematischen Ausstellungen für seine Mitglieder macht der Verein auf sich und die Schmuckkunst aufmerksam. '2020 – ein anderes Jahr' ist der Titel der neuen Ausstellung, die wie frühere Ausstellungen während zwei Jahren unterwegs sein soll.
Aus bekannten Gründen wird die Ausstellung voraussichtlich ab Mai 2021 zuerst auf der Homepage des Vereins zum Anschauen bereit sein. Sobald es wieder möglich ist, wird sie an verschiedenen Orten in Europa gezeigt.
'Auf – und ab ins Grüne' ist mein Beitrag zu dieser Ausstellung. Ich bedanke mich herzlich bei allen, die mich mit ihren Beiträgen auf meinem Ausflug ins Grüne unterstützen und begleiten.
Januar 2021 | Hélène Kaufmann Wiss
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Auf – und ab ins Grüne!
Hélène Kaufmann Wiss
Mir ist in diesem Jahr 2020 aufgefallen, dass der QR-Code eine grosse Wichtigkeit erhalten hat. An vielen Orten wie Restaurants, Kinos etc. mussten wir uns mit diesen QR-Codes an- und abmelden.
Mein Ausstellungsstück, ein Würfelring mit einem Uwarowit-verzierten, aufdrehbaren Deckel, enthält auf seinem Grund einen QR-Code, den ich eigens für diese Ausstellung für mich erstanden habe.
Ich habe verschiedene künstlerisch tätige Personen, denen ich mich verbunden fühle, eingeladen, sich mit Beiträgen betreffend das Jahr 2020 mit mir zusammen an der Ausstellung zu beteiligen.
Die Betrachter, die sich mit diesem QR-Code verbinden, gelangen auf meine Seite, auf der diese Beiträge versammelt sind. Ich wünsche anregendes Lesen und Betrachten.
Unabsehbar reihen sich
Moleküle und Atome
zum Code der Fassbarkeiten.
Endlos ist die Ordnung.
Doch ein Kristall
wäre nicht Wirklichkeit,
zerstäubte er nicht
die Pagoden der Repetition.
Den Abweichungen
sei es gedankt.
Der Ring öffnet sich.
Die Geometrie
nimmt den Wintermantel
vom Haken. Der Windbeutel
bummelt in die Bläue
hinein. Spottungen
tanzen über Wörterbrüche.
Unordnung feixt.
Holpriges, Krautiges
wächst unter dem Rasen im Muttergestein.
Hui-und-pfui-und-ach-und-oiii-ohweh-oh-oh…
Ja, schau, schau nur:
der Seidenreiher steht im Schilf,
Brachsmen wühlen den Schlick auf,
und Hügel schlieren vorbei.
Weite Schwingen lösen sich aus der Nezthaut
und Laichfäden rollen wie Nausikaas Ball
quer über die Insel zum nackten Odysseus:
Oh ja, erzähle, erzähle mir Muse die Geschichte
der Vielgewanderten, der Schiffbrüchigen,
der Fremdlinge, der Liebenden,
der Schönheit
in Uwarows
heilendem Grün.
Fernordnung: Die regelmässige und endlose Anordnung von Molekülen oder Atomen in einem kristallinen Festkörper, von denen der Aufbau der realen Kristalle an vielen Stellen abweicht, ohne dabei den Charakter der Fernordnung zu verlieren.
Die Autorin und Kunstschaffende schreibt Szenen, Prosa und Lyrik.
Medien sind schon immer Krisengewinner, das ist nicht neu. Frankfurt: Mehr als 100 Corona-Infektionen nach Gottesdienst. Swiss
will ab Juni wieder fliegen. Wieder Papstsegen auf dem Petersplatz. Schweizer sollen in der Schweiz Urlaub machen. Italiener
missachten nach Lockerung Regeln. Kritik an Corona App. Mediziner warnen vor zweiten Corona-Welle. Städtetag befürchtet
Innenstadtsterben. Österreichs Bundespräsident nach Coronasperrstunde in Wien erwischt. Mehrheit der Klubs will wieder spielen.
Drei von vier Restaurants wieder offen. Neun von zehn Restaurants mit Verlust. China weist Vorwürfe wegen Pandemie scharf
zurück. 11 neue Coronavirus Infektionen in den letzten 24 Stunden. Eurogruppenchef lobt Merkel-Macron-Plan. Coronavirus–Indien
hilft Wanderarbeitern mit Sonderzügen. Weniger Demonstranten gegen Covid-Massnahmen. 18 neue Coronavirus-Infektionen.
Kaum eine Familie ohne Tote. Bergamo ist von der Corona-Katastrophe tief gekennzeichnet. Kurzarbeit kostet 30 Milliarden.
Homeoffice-Arbeiter bekommen Mietzuschuss. So arbeiten Corona-Detektive. Skurrile Corona-Streife. Corona und Fluten bringen
Schimpansen in Ngamba in Gefahr. Coronakrise trifft Prostituierte. Auf der Reeperbahn gehen die Lichter wieder an. Kommt die
Aufhebung der Corona-Regeln zu früh? Althaus: im Moment schaut es sehr gut aus. Blutverdünner für Covid-Patienten.
Langzeitfolgen von Covid 19. Ein paar Wochen in der Reha – für immer an der Dialyse. Manche Grossveranstalter bibbern weiter.
Corona – die grenzüberschreitende Zusammenarbeit hat Leben gerettet. 1000 jubelnde Fans an illegalen Fussballspielen. Die
Pandemie könnte Terroristen auf Gedanken bringen. Impfgegner schüren eine wissenschaftsskeptische Haltung. Corona feiert mit
an Pierre Nkurunzias Abschiedsparty. «New York Times» widmet Titelseite den Opfern der Corona-Pandemie. Brasilien verzeichnet
weiter hohe Todeszahlen. Alle wollen campen. Was macht Covid-19 mit unserer Lunge? Corona kostet Spitäler Milliarden. Schweizer
Armee stoppt Einkauf von Schutzmasken. Kirche und Corona. Corona-Geldsegen verzerrt den Wettbewerb. Neues Organ in
Coronazeiten. Wer hat Angst von Ansteckung? Der bürgerliche Corona-Protest. Ferien in Italien – trotz Corona. Das Coronavirus
rückt die vom Aussterben bedrohten Schuppentiere wieder in den Fokus. Spitäler operieren wieder auf Hochtouren. Corona-Proteste
– Auftritt der Narren auf dem Theater der Freiheit. In guten und noch mehr in schlechten Zeiten – Kultursponsoring. Sie verteilen
Schutzmasken, doch viele lächeln nur und laufen weiter. Wir alle werden durch diese Krise ärmer werden.
Und nun –?
Der Typograf schreibt seine Lebensgeschichte in biografischen Splittern.
*
Thomas Flück
*
Infektiöse Gedanken zur Zeit
Christine Fischer
Sehr bewehrtes Publikum
wir sind uns einig: Was den menschlichen Geist antreibt, ist die Suche nach Erkenntnis. 'o weit, 'o gut. Doch das Bunterfangen ist nicht ganz einfach, denn jede Erkenntnis ist eine Frage der ‘ichtweise. Dies zeigt sich gerade jetzt, in den zeitweisen Eiszeiten, den Zeiten der 'risen, in denen neue 'örter spriessen wie 'lumen im 'rühling oder wie die 'erbstzeit'osen. Die 'ichtweise 'rennt uns, statt uns zu weinen, sie macht aus unschuldigen 'örtern 'hauptungen.
Nehmen wir das 'ort 'bstand. Es 'lüht und 'lüht, bekundet 'orläufig keine 'elke. 'bstand! 'bstand! 'bstand! Daran zwängt ja so 'ieles, das vereinsame 'eiern zu 'einachten, der 'öne 'onsens in der 'ruppe, es 'paltet uns ja, das ‘ort ‘bstand, genauso wie das ‘armlose ‘örtchen ‘aske. ‘aske! ‘asken’’licht! Es ‘paltet den ‘ruppen’onsens, facht aus uns ‘wei Lager oder lehr. Neider. Wehen Sie: Ist doch ‘lödsinn, wegen einem oder ‘wei 'örtchen sich 'palten zu krassen, einen 'asken'rieg zu rühren gar. Da 'leiben wir doch lieber auf 'istanz. Und 'erkragen uns aus der 'erne, bis wir uns wieder im 'ahkampf üben schürfen.
Es 'leibt die 'ichtweise, dass wir wissen, dass wir nichts wissen, wie beseits 'okrates 'erkündet hat, dass 'iemand die Beisheit mit Schöffeln gegessen hat, darauf säuft alles heraus. Der 'hilosoph ereilt uns die Belaubnis, ein istchen zerrückt zu sein, ein 'enig entwirrt und genau dies auch sein schürfen, diebes Kublidumm: kinetisch-frenetisch coroneurotisch und von neuem 'ebensinn fisziert! 'esser eine 'ichtweise zu viel als eine zu ewig! Es lebe die Urträglichkeits'oleranz! Es lebe die Sinnfektion!
Versindlichen Sank!
"Im Schreiben gebe ich meiner Wahrnehmung Gestalt - der äusseren wie der inneren." christinefischer.ch
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Thomas Flück
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Herrenlos
Michael Guggenheimer
Ich weiss nie, wohin mit meinen alten Mänteln. Wenn wieder Kleidersammlung ist, habe ich gerade keine Kleider für den weissen Sack. Seitdem die grauen Säcke der städtischen Müllabfuhr mit einer Gebühr belastet werden, fülle ich meine Abfallsäcke gezielter. Alte Mäntel gehören nicht in den Müll. Ausgediente Mäntel und Sakkos nehme ich auf Bahnreisen mit, ich fahre sie spazieren. Ich habe zwischen Zürich und Basel, zwischen St.Gallen und Glarus und zwischen Zürich und Locarno absichtlich Mäntel am Kleiderhaken hängen oder ausgediente Hemden und Pullover liegen gelassen. Einmal ist mir beim Umsteigen in Arth-Goldau ein Herr mit meinem Mantel über den Arm nachgerannt. Ich habe ihn entrüstet angeschaut. Es war nicht mein Mantel. Wie hätte er es auch beweisen können. Rechtzeitig leere ich die Manteltaschen, ich entferne alle Hinweise, meine Mäntel sind herrenlose Reisende durch die Schweiz, die irgendwann in Olten oder Genf versteigert werden.
Michael Guggenheimer, Publizist in Zürich, hat mehrere Bücher publiziert und beschäftigt sich in seinem Blog intensiv mit dem Medium Fotogrtafie. filmeinwurf.ch textkontor.ch
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Thomas Flück
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Winzlinge
Monika Schnyder
Winzlinge serielle Selbst-
läufer Geistteilchen Windbeutel
mit Minisendern versehen
woher wohin?
Ausgebüxt wie es heisst
klandestin jetzt aber
Wellen und immer mehr
Wellen Millionen Virionen und
immer mehr Attack survival oft he fittest Panischer Frühling
Stroboskopblitze
in meinem Kopf
Kontakt beschränkt
Krankì alùùa Aaltì alùùa
Kìand alùùa Schtäarba alùùa
Töarscht nìammart berüüara
Jòò nüd schmuusa
Jòò nüd fäaschta
Sìnga tööarìd nu Pföögìl
Jò dänn sìammar halt Vöögìl
Dar Früalìg ìscht wùndarbaar
Ùan Sùnnataag nòcham andara
Kùmm mar gònd gì wandara
Ìm Gaarta tribts
ùnd blöüts ùnd sìngts
Mear hònd mììa Zitt
Rännìd nümma so witt
Ggnüüssìd daa wommar hònd
Ùnd schäzìds vìll mììa
S Ggmüas ùsam Gaarta S Baada ìm Rii
S nüd müüsa, s ùafach sii
Iaz ìscht dar Ueübargang
ìs ùanazwùanzgì gschafft
frìscha Lùft
frìschì Zuavarsìcht
as häallat wììdar
mear sìand nò dòò
andarì hònd müsa gòò
ìn an andars Läaba
wo s wìdar frei ùnd mùùfarìg sìand
mängmòòl höar ìs lacha
Berta Thurnherr, Geschichtensammlerin, Geschichtenerzählerin, Mundartautorin, lebt in Diepoldsau, St. Galler Rheintal.
Die Schweizer Autorin Andrea Gerster lebt und arbeitet am Bodensee.
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Thomas Flück
Der genetische Bauplan - die RNA - von Sars-CoV-2, des Virus also, das die Covid-19-Pandemie ausgelöst hat, besteht bildlich formuliert aus einem Text mit rund
30'000 Buchstaben. Genauer gesagt aus rund 30'000 Nukleotiden. Die Buchstaben heissen Adenin, Thymin, Guanin und Cytosin. A, T, G und C. Im beigelegten Bild habe ich jedem dieser Buchstaben eine Farbe gegeben und sie so aneinandergereiht, wie sie in der RNA des Virus aufeinander folgen. So ist dieses Bild entstanden. Dann habe ich mich gefragt, was für Wörter die wir in unserer Sprache verwenden, sich mit den Buchstaben A, T, G und C bilden lassen. Da wäre zum Beispiel der "Gag". Die Abfolge GAG kommt im Genom von Sars-CoV-2 234 mal vor. Und dann könnte man auch "Tat" schreiben. TAT kommt im Genom 564 mal vor. In Sars-CoV-2 steht also mehr als doppelt so oft "Tat" wie "Gag". Das Virus ist so - salopp gesehen - kein Gag sondern fordert uns zur Tat auf.
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Thomas Flück
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Seuche und kein Ende
Ivo Ledergerber
Der Himmel ist blau
das Wetter ist schön
es geht etwas Wind
es ist ruhig Johann W.
relaxed im Garten
geniesse ich
Stille und Bläue
Ostern
kein Pudel ist in Sicht
der Teufel kreist
als Pleitegeier
der Nachbar weiss nicht
ob und wie
sein Laden weiterlebt
lieber Goethe
hast du vielleicht Kontakt
zu einer netten Dame droben
die dem Chef den Satz entlockt
ihr seid gerettet
würde mir echt helfen
diesen Frühling weiterhin
zu schätzen
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2020 - einmümeln und zeichnen
Regula Haas
Regula Haas, St. Gallen. Grafikerin und Interaction Designerin mit mehr oder weniger Zeit zum Zeichnen, 2020 war's mehr. regulahaas.ch
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Virale Langeweile
Ivo Ledergerber
Leere Agenda
viel sehr viel Zeit
Langeweile ohne Grenzen
leere Regale
leer Reis Nudeln Mehl
nein niemand hungert
Toilettenpapier alles weg
vielleicht hilft zählen
gegen die Langeweile
250 Blätter pro Rolle
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Kleiner virologischer Weltuntergang
Ivo Ledergerber
Es lockt wieder mancherorts
die Sehnsucht nach gestern wächst
meine Liebe
was ist da zu sagen
es hat uns bestohlen
wie kann ich so
morgen in den neuen Tag
hineinbummeln
Ivo Ledergerber lebt und arbeitet in St. Gallen, wo er auch seinen Verlag betreut. ivoled.wordpress.com
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Thomas Flück
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2020
Markus Reich
Der Wind pfeift
auf alle unsere Pläne
nachts
auf den Baustellen
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Gewühle
Gedränge
Gedröhne
stark reduziert.
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In der Sturmnacht
hat der Bohnenbaum
mit einer neuen Pflästerung.
begonnen.
Fortwährend treten
unter unseren Füssen
alte Fugen zu Tage.
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Der Himmel über mir
kennt viele Täler
behelligt mich
nicht damit.
Markus Reich, Kunstschaffender, lebt am Bodensee. markusreich.ch
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Thomas Flück
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Lapis philosophorum
Fre QRer
Künstlerhand schafft Zauberland,
Runden, Kanten, Ecken,
unter grünem Länderschild
tut sich was verstecken.
Was es sei, als Stein der Weisen
wird es sich all jenen weisen,
die mit sanft gefühltem Drehn
in des Ringes Tiefe gehn.
Wer immer dann dorthin gelangt
sieht eine Welt, die prächtig prangt,
vorausgesetzt, als menschlich Wesen
kannst du diese Zeichen lesen ...
Fred Kurer ist ehemaliger Lehrer und Theaterleiter, schreibt und übersetzt Theaterstücke, Prosa und Lyrik.
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Thomas Flück
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Wellenamplitude; erhöht.
Martina Helena Kaufmann
Unter dem Goldregen gehend,
flanierend hinein in eine andere Zeit.
Wartend, bis die Welle kommt.
In die Dörfer, Städte und Freundeskreise hinein,
fliesst sie unerkannt, kaum spürbar,
mit voller Wucht oder eins zwei, drei... letzte Chance...
Der träg‘ gewordene Schritt torkelt uns voraus.
Der Abgrund, in seiner Präsenz gestärkt,
umhüllt manch einen in unbekannten Schmerz.
Da umfliesst sie uns aus der Nähe, birgt in sich die ungeliebten Gäste,
die sich tragen lassen von Atemzug zu Atemzug,
diese Suchenden nach dem zu vereinahmenden Kern.
Damit sie den Geist nicht vernebeln, lass die Welle vorüberzieh‘n,
Leg Sandsäcke auf die Schwellen, so dass sie nicht mit sich reisst
die Freuden der Freiheit, die Luft der aufblühenden Zeit.
Das Tal der Steine treibt den Fluss in die Berge.
Schon am nächsten Tag kommt er wieder,
prahlt mit dem Zahn eines Wolfshunds, wedelt
mit dem Schwanz einer Eidechse.
*
Ein Sommertag, dick und fett wie eine Bremse.
Nichts Neues im Selbstgespräch der Felsnasen.
Die Sonne lehnt sich an einen Wasserfall,
heiss und ohne Zeitvergehen.
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Die Maggia, berauscht von der eigenen Kälte
wie jedes Jahr. Eine in Wasser gebannte Skulptur,
ständig neu geschaffen von der Hand
beweglicher Steine.
*
Ah, dösen, träge wie ein Kiesel, der am Flussboden
ruckelt. Als ob man verlangsamt wäre von
zu vielen schnellen Jahren. Aber die Strömung
zerrt auch am Nichtstun.
*
Steine, Steine, nichts als Steine und Felsen.
Selbst der Himmel hat etwas Steinernes.
Hinten im Tal das Meisseln eines Helikopters,
der die Luft planiert.
*
Seit Tagen schleicht die Katze mit dem Greisengesicht
ums Haus. Viel Zeit ist vergangen, auch die Steine
sind alt geworden. Die Wiederholungen wachsen
mit Ufern und Brücken.
*
Man wartet. Man hat nichts zu tun, ausser Warten.
Erstaunlich, die Geduld der Steine, als sei man
mit jedem Einzelnen selber gemeint. Aber das dauert,
es dauert und dauert.
Aus: Museum der Einsichten, Orte Verlag
Clemens Umbricht lebt mit Gedichten.
*
Thomas Flück
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Ist Felis silvestris der Bürde seines Amtes gewachsen?
Theres Roth-Hunkeler
Die Wildkatze amtete im Jahre 2020 als gewählte Botschafterin für wilde Wälder. Und im Sommer desselben Jahres wurde sie vom Waldrat mit der Bildung einer Taskforce beauftragt, die sie auch präsidieren würde. Weitere designierte Mitglieder waren die Turteltaube, Vogel des Jahres, der Maulwurf, Wildtier des Jahres und die Zauneidechse, Reptil des Jahres. Allerdings bestand der Waldrat auf baldige Erweiterung der Arbeitsgruppe. Besonders gerne hätte er gesehen, wenn auch die Nase, Fisch des Jahres, darin Einsitz genommen hätte.
Doch, wie soll, bitte schön, ein Fisch sitzen?, gab die Wildkatze zu bedenken, die Nichtschwimmerin war. Hingegen war es kein Problem, den schwarzblauen Ölkäfer, Insekt des Jahres, sowie den grünen Zipfelfalter, Schmetterling des Jahres, aufzunehmen. Als auf Drängen des Waldrates auch die gerandete Jagdspinne von der Wildkatze für die Mitarbeit angefragt werden musste, zierte sich das Spinnentier des Jahres erst ein wenig und fragte:
Was ist denn die Aufgabe dieser Taskforce?
Wir sollen den Waldrat beraten, was denn sonst?, raunzte die Wildkatze etwas verärgert. Da lobte sie sich doch das Benehmen der Mauerassel, die auf Anfrage verlauten liess, sie verzichte schweren Herzens auf die Ehre einer Aufnahme in die Taskforce, sehe sie es doch als gewähltes Höhlentier des Jahres gewissermassen als ihre oberste Pflicht an, ihre Höhle gut in Stand zu halten, was sie nur leisten könne, wenn sie zuhause bliebe. Die Speer-Azurjungfer hingegen erachtete es als Libelle des Jahres als unabdingbar, sich vor einem allfälligen Beitritt in die Arbeitsgruppe umfassend zu informieren. Sie solidarisierte sich mit der gerandeten Jagdspinne und wollte nicht nur wissen, zu welchen Themen der Waldrat beraten werden sollte von der Taskforce, sondern auch, wer dieser Waldrat überhaupt sei. Die zweite Frage war einfach zu beantworten und, zeugte sie nicht, dachte die Wildkatze, von der erschreckenden Ingoranz der Jagdspinne? Der Waldrat bestand aus hohen Tieren, aus was denn sonst? Ein Wolf und eine Wölfin, ein Bär und eine Bärin, ein Luchs, ein Mäusebussard und eine Schleiereule waren seine für vier Jahre gewählten Vertreter*innen. Hingegen, zu welchen Themen die Taskforce den Waldrat beraten sollte, das stand noch nicht fest, aber gewiss würde das die Zukunft weisen.
Die Wildkatze seufzte, hatte sie sich doch ihren Auftrag einfacher vorgestellt. Das Gebaren der Speer-Azurjungfer und der gerandeten Jagdspinne trieb sie schon jetzt zur Weissglut: Immer nur Fragen stellen. Und das schon im Vorfeld. Jedenfalls dachte sie sich für die erste Sitzung unter einer Robinie, dem Baum des Jahres, eine Sitzordnung aus, bei der die Azurjungfer und die Jagdspinne nicht nebeneinander platziert sein würden. Zwischen ihnen würden die Auen-Schenkelbiene und der Dinoflagellat Platz nehmen. Von der Wildbiene des Jahres erhoffte sie sich als Präsidentin nämlich summende Zustimmung, was der Einzeller des Jahres bestimmt genauso signalisieren würde, natürlich mittels Köpersprache. Zum Glück war die Wildkatze versiert in Fremdsprachen. Sie konnte summen, zirpen, schnurren, fllügelschlagen und rüsseln zu verstehen, sie konnte jede Mimik, Gestik und Körperhaltung lesen, schliesslich hatte es ja seine Gründe, weshalb der Waldrat genau sie zur Präsidentin gekürt hatte. Nach der Sitzordnung machte sich die Wildkatze an die Traktandenliste für die erste Sitzung: Vorstellungsrunde. Ämterverteilung. Allgemeine Umfrage. Varia. Umtrunk.
Der Morgen der ersten Sitzung brach heran. Die Wildkatze liess sich schon in aller Hergottsfrühe und noch ohne Frühstück auf ihrem Lieblingsplatz nieder, ausgepolstert mit Schönem Federchenmoos. Noch schlief der Wald, noch war es dunkel. Sie meditierte. Erst vertiefte sie sich in eine Art Mäuseballett, sie hörte die hohen, spitzen Töne der Schermäuse, die sich unterschieden von jenen der Spitz- und Feldmäusen. Obwohl ihr Magen knurrte, visualisierte sie wieder und wieder die geplante Sitzordnung und ging im Geiste mehrfach die Traktanden durch, bis sie schiesslich überzeugt war: Alles würde gut laufen.
Leider hatte sie sich getäuscht. Sie hatte nicht mit der Allianz der Schweizerischen Tiere des Jahres 2019 gerechnet, mit den Glühwürmchen nämlich. Diese waren in Fraktionsstärke anwesend und verlangten per Dringlichkeitsanfrage, dass auch eine ihrer Vertreter*innen aufgenommen würde in die Taskforce, nicht zuletzt darum, um ihre Erfahrungen in Standortmarketing einzubringen. Als nächstes gab die Zauneidechse zu bedenken, dass länderübergreifende Zusammenarbeit in so wichtigen Fragen, wie sie den Waldrat beschäftigen würden, von zentraler Bedeutung sei. Da würde es der Arbeitsgruppe nur gut anstehen, auch Vertreter*innen aus dem benachbarten Ausland aufzunehmen, zumal es ohnehin unsicher sei, ob die Turteltaube nicht etwa aus Deutschland eingeflogen sei, was in ihren Augen völlig okay wäre. Nun entstand Unruhe. Es braucht klare Aufnahmekriterien, verlangte die Azur-Jungfer. Wo kämen wir hin, wenn zum Beispiel Fledertiere aus Bayern oder dem Tirol hier mitmachen könnten? Nun stieg der Lärmpegel. Das Wort Rassist*in war zu hören, die Libelle verlangte, dass jede und jeder der Kandidat*innen über ausgewiesenes Expert*innenwissen verfügen müsse, um aufgenommen zu werden. Was eigentlich mit dem Maulwurf los sei, der fehle nämlich, fragte die etwas pikierte Turteltaube mit sich überschlagender Stimme. Gäbe es denn nicht Anwesenheitspflicht? Jedenfalls, noch bevor die nun arg gestresste Wildkatze die Sitzung offiziell eröffnen konnte, redeten alle durcheinander. Ruhe, schrie die Präsidentin verzweifelt. Und noch einmal: Ruhe, bitte, aber Tumult und Chaos hielten an, bis die Wildkatze einen schmerzenden Stich im Rücken spürte und für eine Weile das Bewusstsein verlor. Als sie wieder zu sich kam, herrschte so lange Totenstille im wilden Wald, bis die Speer-Azurjungfer zirpte: Wir bräuchten ganz dringend Statuten.
Theres Roth-Hunkeler, Autorin, Baar.
Im Frühjahr 2021 erscheint ihr neuer Roman 'Geisterfahrten' bei der edition bücherlese. Luzern. roth-hunkeler.ch
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Thomas Flück
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Demut. jetzt.
Anina Kaufmann
Stille. knirschende Schritte im Schnee. angenehm laut in der geräuschlosen Landschaft. Kulisse aus weissen Fäden. Flächen. homogen. dann doch Facetten da. glitzernde Textur. sich atmen hören. sich denken hören. in voller Lautstärke. sich atmen sehen. in dieser Kälte. gedämpft. ruhe. unerhört laut. die eigenen Gedanken. unerhört leise. die Welt. jetzt. das System «Welt». runtergefahren. weil unsichtbarer Feind. ungewohnte Begegnung. da draussen. ungewohnte Begegnung. mit sich selbst. sich zuhören. abwarten. bis der Lärm versickert. ruhig. da. sein. kein Echo in dieser Landschaft. das kalte Weiss verspeist die Töne still. ohne neue zu erzeugen. Fäden loslassen. in der Stille. da. sein. Demut. Jetzt. vor der Natur.
Anina Kaufmann, Gestalterin von und mit Text-ilien, aus Bern aninakaufmann.ch
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Thomas Flück
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Andrea (Martina) Graf
Anmerkung: no-ne: Mundart für noch 'ne / noch eine
Die Ruhe von oben ist ungewohnt
auch keine Kondensstreifen
stattdessen weiter Himmel
ungestörte Wolkenbilder
und hin und wieder ein Vogel, der vorüber zieht
Peter Eberhard, Architekt. Entdeckte für sich die Panoramafotografie mit dem Handy und schätzt die Bildbearbeitung an Ort.
Er steht im regen Austausch mit Ursula Homberger.
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2020 im Grünen und in der Stube
Ursula Homberger
Ein Kreisen um sich selbst
draussen Leere drinnen Sturm
Ursula Homberger, Werklehrerin, die von sich sagt, dass ihr drittes Auge die Kamera ist.
Wohnhaft am Bodensee und im Appenzellerland.
Peter Eberhard, Appenzeller Horizont
Peter Eberhard, Nebelmeer über dem St. Galler Rheintal
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Ganze Schweiz sonnig
Pablo Erat
Findet das Aprilwetter zukünftig im Mai statt? So fragt man sich. Oder ist auch das eine Folge der Coronakrise.
Jetzt, wo alles anders ist. Fast den ganzen April hindurch hiess es, ganze Schweiz sonnig und sommerlich warm. Doch dann kamen
die Eisheiligen. Pankraz, Servaz und Bonifaz, und dann auch noch die "Kalte Sophie". Pankraz, Servaz, Bonifaz
machen erst dem Sommer Platz. So heisst eine alte Bauernregel.
Ganze Schweiz teilweise sonnig, hiess es heute. Aber immerhin. Hansjörg und seine Frau, die Dauergäste im
Schwimmbad, immer am gleichen Ort, haben schon gepackt, die beiden Sonnenschirme, die beiden Liegestühle, die Badetücher
und auch die Sonnencrème eingepackt. Aber dieses Jahr ist alles anders. Erst Mitte Juni, vielleicht, öffnet das Schwimmbad. Mit
zwei Metern Abstand direkt am See, nicht zum Wasser, zu den Andern. Die ganze Schweiz sonnig. Jeder für sich allein oder
bestenfalls zu fünft. Ich sehe die Bilder. Die ganze Badi voll Vermummter. Mit Masken vorm Gesicht in der Sonne liegend. Oder im
See schwimmend. Vielleicht gut gegen ungewolltes Wasser-Saufen in den Wellen. Und dann, der ganzen Körper braun gebrannt
und nur das Gesicht weiss und bleich, mit einem kleinen braunen Streifen zwischen Maske und Sonnenbrille. Alle zehn Quadratmeter
eine Person und alle zehn Meter eine Desinfektionsstation und der Bademeister mit dem Meterstab, die Abstände kontrolliernd.
Aber die ganze Schweiz ist sonnig, von morgen bis zum Abend und in der Nacht sternenklar.
Ich gehe nicht in die Badi. Vom Bundesrat zu einem eingesperrten Greis mutiert und deshalb zu Hause bleibender
Risikofaktor. Wenigsten haben mir die Aerzte gestern, nach einer Dickdarmspiegelung einen polypenfreien Darm bestätigt. Somit
bin ich wenigstens dieses Risiko los.
Der Bundesrat strebt neuerdings eine Zahl der Neuinfektionen von unter hundert an. Die Spitäler stehen halb leer, die
Intensivstationen sind nicht überlastet. Die zum Notspital umgenutzte Rämiturnhalle ist ungebraucht wieder ausgeräumt. In einem
Monat vielleicht kommt die dich vor Infiszierten warnende App. The big brother ist watching you. Dann, wenn vielleicht alles vorbei
ist. Bilder der Särge transportierenden italienischen Militärlastwagen führten plötzlich zu widerspruchslosen Akzeptanz von
Notrechtsmassnahmen, weltweit.
Und wann kommt das Bild zur Wende, zur Rückkehr zur Normalität. Zur gewohnten Freiheit. Hansjörg und seine
Frau im Schwimmbad. Dauergäste, immer am selben Ort.
Für nächste Woche ist angesagt: Ganze Schweiz sonnig.
Der Typograf schreibt seine Lebensgeschichte in biografischen Splittern.
Peter Eberhard, Minus 10 Grad am Untersee
Peter Eberhard, Überlingersee
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Spirenflug
Ruth Erat
Heute unter der Kastanie am See
inmitten von Spiren
umflügelt
umrast,
umpfeilt,
das plumpe Menschenwesen,
das sich langsam dreht,
Vogelaufprall fürchtet.
Die Spiren um mich,
pfeilschnell,
dahin, dorthin,
an mir vorbei,
wechseln blitzschnell
die Richtung.
Ohne Angst vor Menschenanprall,
hier, unter der Kastanie am See.
Wir gehen in weiten Bogen
an allen vorbei.
Schutzmaskenwesen,
die mit Latexhandschuhhänden
Äpfel wägen,
Lauch in Einkaufswagen legen,
Rückgeld zählen,
ehe wir wieder
die Flügel unserer Fenster schliessen
und Freund und Feind
und Baum und Vogel
zu Leibe rücken.
Die Autorin und Kunstschaffende schreibt Szenen, Prosa und Lyrik. rutherat.ch
Ursula Homberger, Am Bodensee
Ursula Homberger, Der lange Steg
Peter Eberhard, Stilisierte Flugrouten im Circle Kloten
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Freitag, 13. März 2020 – Buenos Aires
Werner Rohner
Auf dem Weg zum Bus (vom Flughafen in die Stadt) schiebt ein Mann mit grauen Haaren und hellgrüner Atemschutzmaske seinen Rollkoffer neben mir her und summt leise, aber mit schöner Stimme, Nabuccos Gefangenenchor. Was für ein Bild, denk ich, was für ein Lied; und im Kopf sing ich, ebenfalls leise, mit. Und als ob er es hören könnte, nickt der Mann mir ganz kurz zu und setzt sich im Bus neben mich; wo er aber verstummt, als zwei Reihen vor uns ein junger Mann niest. Dieser hatte bereits beide Hände vor dem Mund, als ihm gerade noch einfiel, dass er doch nun in die Ellbogen zielen sollte, was er aber nicht mehr rechtzeitig schaffte, weshalb er jetzt stattdessen den Passagier vor ihm getroffen hat – und ich denke an meine Freund*innen in Chile, von wo ich hergeflogen bin, und was Corona wohl mit den großen Demonstrationen und dem Umbruch macht, welche alle für den März und April erwartet haben, während draußen die neue Stadt an mir vorbeizieht. Aber als hätte ich mich in den letzten Monaten auf Reisen bereits daran gewöhnt, dass mir alles unbekannt ist, schaue ich gar nicht mehr richtig hin (und merke gleichzeitig, dass das viele Grün seltsame Heimatgefühle in mir auslöst). Und dass es vielleicht von Vorteil ist, dass sich alle in Chile seit dem 18. Oktober mit Tränengasschutzmasken eingedeckt haben – und wenn es nur ist, dass sie mit ihren neuen Designs, die sie seitdem entwickelt haben, bald den Weltmarkt erobern. Und denke auch an meine Freundin K., Diabetikerin, und dass sie schon ungewöhnlich lange nichts mehr von sich hören hat lassen.
Nach dem Aussteigen, warte ich an einer Ampel mit gegen hundert anderen – mehr als sich zurzeit in Zürich in einer Bar ansammeln dürfen, und fühl mich plötzlich und entgegen besseren Wissens ein wenig verliebt in diese Stadt, welche einmal mehr vor der finanziellen Pleite steht.
Aber kaum in der neuen Wohnung und im Internet angekommen, finde ich eine Nachricht von U., dass ihr Vater wohl nicht mehr lange lebt (zwei, drei Wochen, vielleicht, vielleicht). Und kurz darauf eine von meinem Freund A. aus Wien, der wie jedes Jahr ein paar Monate durch Buenos Aires tanzt, dass ab Montag von hier keine Flüge mehr nach Europa gehen sollen.
Ich setze mich auf meinen vergitterten Balkon im 14. Stock (gegenüber prangt an einem modernen Komplex groß der Schriftzug swiss medical group), und ich denke an U.s Vater, der nicht mehr in den Spital will. Ich mochte ihn, nein, ich mag ihn sehr. Den letzten großen Epiker, so habe ich ihn bei mir immer genannt, weil er weniger gesprochen, als erzählt hat. Stundenlang. Und so, als würde ich all die Personen, die vorkommen, auch kennen müssen; all die Verwandten und Freundinnen, viele davon schon tot, seine Autos, nach welchen er die Geschichten chronologisch verorten konnte, und natürlich seine drei Töchter und zwei Frauen, so als hätten er und ich eigentlich unser Leben zusammen verbracht, und er erinnere mich nur daran, falls mir etwas davon entfallen sein sollte.
Dabei schweifte er immer wieder ab, von der einer Geschichten zur nächsten, wie zum Beispiel das Klavier seines Onkels im Krieg durch den Boden gekracht war, aber am Ende, und wenn es nur für eine Minute war, kam er wieder zum Anfang zurück. Wobei es gar kein eigentliches Ende gab, er spann dann einen anderen Faden, den er dazwischen begonnen hatte, einfach weiter; brachte auch diesen zu Ende, hatte dabei mindestens zehn neue Geschichten begonnen, und so weiter und so fort, bis U. und ich uns jeweils von ihm verabschiedeten.
Und dass auch ich mich noch von ihm verabschieden möchte. Und bei U. sein, denke ich, und was er sich wohl für eine Zukunft vorstellt für diese Welt, wo er das Ende von Corona gar nicht mehr erleben wird.
Und gehe dann wieder rein, um nach einer Reiseroute zu suchen, welche das möglich macht. Studiere dabei Krankenstatistiken und welche Länder auf dem Kontinent wohl in den nächsten Tagen ebenfalls ihre Flughafen schließen werden; und als ich einen Flug finde und gerade dabei bin all die Zusatzversicherungen wegzuklicken, fällt der Strom, und vor allem das Internet, plötzlich aus.
Abends siehts du weisse Hände,
die sich heimlich auf einem wuchernden
Dachgarten mit Wasser und Scheren
bewegen. Später liegen schlaflos
unter dem Mond, vom Schlangenlauf
des des nahen Tibers in Unruhe gewiegt.
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Mäandernd im lauen Luftbad
bin ich mehr dieses Driften
als was Ich sagt und daran zweifelt.
Peter Eberhard, Turiner Schlossanlage
Peter Eberhard, Waldsaum
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Don Quijote in Rom
Erica Engeler
Ich sitze benommen in der abgedunkelten Küche und schalte das Radio dazu. Schon sind wir zu dritt: Zwei Stimmen, die sich über einen dritten unterhalten, und ich,
gerührt wie immer, wenn Don Quijote einen Auftritt hat. Heute wird er tänzelnd von Richard Strauss in den Raum geleitet.
Ei Tropfen fällt auf den Mittagsteller. Schweiss. Ich lege die Gabel aus der Hand und konstatiere erfreut: Man macht sich nicht lustig über den dürren Gast.
Auch Dostojewski setzt sich hinzu und später Auerbatsch (*).
Sie sind sich einig und verneigen sich vor dieser grundehrlichen Figur, einem Edelmann durch und durch, und attestieren ihm nicht nur Weltverlust, sondern auch die Begabung zu einer feinen Selbstironie.
Es ist kein Schweiss, und nicht das erste Mal, doch völlig unerwartet, hier in in Rom, mit dem Mittagsteller zwischen Büchern und Zetteln.
Wir gelangen nicht einmal ans Ende des ersten Auszugs, denn schon ist seine Zeit vorbei. Begleitet von den vielen, die an seinem Sterbebett weinen, weil er abschwört, aber noch mehr, weil er ein Mensch ist, der stirbt, wie du und ich und darüber hinaus, um ja kein Schlupfloch zu hinterlassen für das Entstehen eines weiteren apokryphen Auszugs.
Erica Engeler, 1949 im Nordosten von Argentinien, damals noch fast Urwald, geboren. Lebt und schreibt in St.Gallen.
Zuletzt erschienen: Wie ein Bisam läuft, Caracol Verlag.
In Vorbereitung: Wie Drachflieger am Meer, Gedichte, Caracol Verlag
Ursula Homberger, Das Esszimmer
Ursula Homberger, Das Büro
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's Doosii
Erwin Messmer
1. Mai 2020
Wa väbii isch
isch gsii
Wa gsii isch
väbii
Wa gsii isch
isch doo
Wa väbii isch
wirkt noo
Dää wo gsii isch
hockt doo
Dää wo doohockt
isch gsii
isch doo
und wirt sii
Dää wo doo isch
binii
Erwin Messmer, geb. in Staad SG am Bodensee, lebt in Bern. Organist, Publizist und Lyriker. Redaktor der Schweizer Literaturzeitschrift orte. Schreibt auf Hochdeutsch und im Sankt Galler Dialekt. erwin-messmer.ch
Peter Eberhard, Auf dem Seerücken
Peter Eberhard, Lahmgelegter Gourmetservice mit Blickrichtung Uetliberg
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Ohne Titel
Peter Höner
FAUST.
Mein schönes Fräulein, darf ich wagen,
Meinen Arm und Geleit Ihr anzutragen?
MARGARETE.
Bin weder Fräulein, weder schön,
Kann ungeleitet nach Hause gehn. Sie macht sich los und ab.
So läuft das heute nicht mehr. Die Bezeichnung Fräulein eine Beleidigung. Arm und Geleit? Ich bitte Sie, wer spricht denn so? Ganz schön aus der Mode gekommen. Und übergriffig wurde der Herr offensichtlich auch schon, sonst müsste sich Margarete nicht losmachen und abdüsen.
Heute überlassen wir unser Schicksal einem QR-Code. Diesen geben wir dann in einen Pool und lassen einen Algorithmus ausrechnen, mit welchen QR-Codes der unsrige die grösste Schnittmenge besitzt. Das Resultat ist eindeutig. Wem die Prozentzahlen nichts sagen, dem wird eine Auswertung mitgegeben, die den Handlungsbedarf erläutert.
Übereinstimmung
Empfehlung des Bundesamtes für Wohlfahrtspflege (BAW)
00 – 05%
Vor unbedachten Handlungen wird gewarnt, Zuwiderhandlungen können vom Gesetzgeber bestraft werden.
05 – 30%
Geringe Erfolgschancen, von aufwendigeren Aktionen wird nachdrücklich abgeraten, auf lange Sicht müssen Sie mit grösseren Problemen rechnen.
30 – 40 %
Kontaktaufnahme empfehlenswert.
40 – 60 %
Jeder Einsatz lohnt sich, Hoffnungen sind berechtigt, wenn Sie überdies der Meinung sind, dass Risiken zum Leben gehören und Sie aus Scheitern lernen können, sollten Sie unbedingt aktiv werden.
60 – 70 %
Nur für sehr gutmütige und ausgeglichene Personen empfehlenswert. Wenn Sie Beständigkeit Veränderungen den Vorzug geben und mit der notwendigen Vorsicht agieren, gehören Sie vielleicht zu den Glückseligen, aber vergessen sie nie: Glück und Glas, wie leicht, bricht das.
70 – 80 %
Sie müssten ein Narr sein, um ein solches Resultat zu glauben. Sie sind doch kein Klon.
Über 80 %
Rechnungsfehler, Manipulation, Diktatur; vermeiden Sie jede Kontaktaufnahme, zerstören Sie Ihren QR-Code. Lassen Sie sich, wenn immer möglich, von Ihren Grosseltern beraten.
Oder wir schlagen bei Shakespeare nach. Zum Beispiel in seinem Theaterstück: Was Ihr wollt. Dort wird die als Mann verkleidete Viola von ihrem Herrn als Liebesbotschafterin benutzt, um dann von der Angebeteten ihres Herrn einen Ring zu erhalten, der – doch lesen Sie selbst.
VIOLA
Ich liess ihr keinen Ring: was meint das Fräulein?
Verhüte, dass mein Schein sie nicht betört!
Der Ring von meinem Herrn?
Er schickt' ihr keinen: Ich bin der Mann.
Wie soll das gehn?
Orsino liebt sie zärtlich;
Ich armes Ding bin verliebt in ihn,
Und sie, Betrogne, scheint in mich vergafft.
Was soll draus werden?
Wenn ich Mann bin, muss
Ich an der Liebe meines Herrn verzweifeln;
Und wenn ich Weib bin: lieber Himmel, ach!
Wie fruchtlos wird Olivia seufzen müssen!
O Zeit! du selbst entwirre dies, nicht ich:
Ein zu verschlungner Knoten ist's für mich.
Ja, lieber Himmel, ach! Wer glaubt denn, dass ein QR-Code einen Knoten, irgendeinen zu entwirren vermag?
Peter Höner ist ein Schweizer Schriftsteller und lebt im Thurgau auf dem Iselisberg. peterhoener.ch
Peter Eberhard, Klein Venedig zwischen Konstanz und Kreuzlingen
Ursula Homberger, Quo vadis?
Ursula Homberger, Ein Garten in Zürich
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Zustände
Tanja Kummer
Am vergangenen Dienstag han i Zueständ übercho.
Sie denken jetzt: Jo wa wotsch, einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul! Natürlich haben Sie theoretisch recht, aber ich bin kein Kind mehr, das sich ganz grundsätzlich über jedes Geschenk freut. Und ich habe auch nie Bekannten oder Verwandten gegenüber erwähnt, dass ich eigentlich wunschlos glücklich bin und mir einzig vorstellen könnte, dass ich eines Tages gern emol no wür Zueständ übercho. Am letzten Dienstag war es dann aber soweit und ich habe nicht nur einen Zustand sondern gad zwei Zueständ übercho, zudem total gegensätzliche: Einerseits müde, andererseits verliebt. Müdesein ist so: Gähnen und vor lauter Gääähnen sammeln sich Trääänen in den Augenwinkeln, man fühlt sich neblig, das Gehirn lallt: Geh in die Küche und hol’ dir was, in der Küche fragt man sich, was wollte ich hier? Und die Glieder, die sind tonnenschwer. Und Verliebtsein ist so: Wach, aber richtig. Tag und Nacht. Der Kopf jubiliert in hohen Tönen, der Magen schnurrt und zurrt natürlich, Schmetterlinge im Bauch sind das eine, die Gedanken flattern wie Vögel.
Müdesein und verliebtsein. Wer kennt sie nicht: zwei ganz, ganz verschidni Zueständ. Nun denn – es sind die beide Zueständ, die ich übercho ha. Und ich habe gemacht, was man nun mal mit Zueständ so macht: begrüssen, beobachten, akzeptieren – mit einem Schulterzucken. Sonst kriegt man ja gerne eine Flasche Wein. Kerzen. Oder Blumen. Blumen, die verwelken – und so sind auch meine Zuständ langsam iigange. Danach war ich erstaunlicherweise doch etwas leer, aber sei‘s drum: Ich will keine Zuständ me übercho und hoffe, dass auch Sie ganz ohne Zustände wunschlos glücklich sind.
Die Thurgauerin Tanja Kummer (*1976) schreibt Bücher für Kinder und Erwachsene und arbeitet als Buchhändlerin. tanjakummer.ch
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Regula Haas, Grafikerin in St. Gallen, hat bei diesem Projekt den QR-Code generiert und die Seite eingerichtet und bearbeitet. regulahaas.ch
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Copy-Art – die Bild- und Printmanufaktur in St. Gallen, hat bei diesem Kunstprojekt den QR-Code in den Plexi-Würfel des Rings gelasert. Eine ihrer Spezialitäten ist das direkte Bedrucken von verschiedenen starren Materialien.
Markus Bienz, Tamara Gerber | copy-art.ch
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Thomas Flück, Fotograf in Heiden, hat den Ring bei diesem Ausstellungsprojekt von Hélène Kaufmann fotografiert. thomasflueck.ch