Christine
Fischer
Imago
Einführung zur Ausstellung von
Hélène Kaufmann Wiss
Mit Texten von Monika Schnyder
Hand aufs Herz: Was wissen Sie über
Insekten?
Dass sie lästig sind.
Dass sie surren, nein sirren.
Und dass sie fliegen, schwirren oder schwärmen. Noch schlimmer:
krabbeln.
Und dass ein Stich von ihnen verdammt unangenehm ist.
Wie gesagt: Sie sind lästig, diese Viecher, dieses Flugzeugs.
Warum muss es Insekten überhaupt geben, werden Sie sich - vielleicht
in der Badi oder in Lappland beim Beerenpflücken - schon gefragt
haben.
Genau dieses 'Warum eigentlich‘ mag
auch Hélène Kaufmann und Monika Schnyder umgetrieben
haben, als sie im Hitzesommer 2003 in Bedigliora, einem Dörfchen
im Mal Cantone, ihre Auseinandersetzung mit dem Thema Insekten antraten.
Was heute Abend zu sehen und zu hören ist, sind für mich
keine Antworten, sondern künstlerische Befragungen, die so
fein gesponnen, so unbekümmert, so rätselhaft und aufstachelnd
sind wie die Insekten selbst.
Sich von der Tierwelt zu Wort- und Bildwerken
inspirieren zu lassen, ist nicht neu. Denken wir etwa an die Pferdebilder
von Marc oder an den Panther von Rilke. Aber Insekten? Welches Leistungsprofil
ist erforderlich, um sich mit Insekten zu befassen? Lassen Sie mich
die beiden Künstlerinnen des heutigen Abends einem Eignungstest
unterziehen.
- Wer mit Insekten befreundet sein will,
muss über ein feines Gehör verfügen. Nicht nur hören
können, sondern horchen, voller Geduld und ohne sich gleichzeitig
zu kratzen. Das tut Monika Schnyder. Und im Erlauschen der Flügel-
und Beingeräusche, die unsere äussersten Nervenfasern
stimulieren, findet sie eine neue Sprache: Eine fast metallisch
anmutende, digital funktionierende, formal durchkomponierte Sprache,
die abhebt von romantisierender Naturschwärmerei. Eine Sprache,
die uns bezirpt und verschwirrt in eine Welt, die mehr von der Zeit
bestimmt ist als vom Raum, mehr vom Rhythmus als von der Metapher,
mehr von der spielerischen Klangvirtuosität als von weltlastiger
Sinngebundenheit. Eine durch und durch moderne Sprache bekommen
wir zu hören, wenn wir etwa 'von Kufe zu Kurve gekuppelt’
werden. Sie ist verwandt mit der Sprache der Fledermäuse, der
Delphine, der städtebaulichen Architektur Berlins, gespielt
auf der 'Gleisharfe’, – vielleicht die Sprache der Zukunft.
- Wer mit Insekten befreundet sein will,
muss ein genaues und ein liebendes Auge haben. Das hat Hélène
Kaufmann Wiss. Ein Auge, welches das Wesenhafte erkennt, Wesenhaftem
nachspürt. Gepaart mit einer Hand, die Wesenhaftes einfangen,
darstellen oder augenzwinkernd zum Vorschlag machen kann, weit über
das reine Abbilden oder Nachzeichnen hinaus. Als gelernte Goldschmiedin
verfügt die Künstlerin über das chirurgische Werkzeug,
um den feinziselierten Tieren gerecht zu werden: Wo das Insekt sticht,
ritzt sie in Ölfarbe, wo wir uns kratzen, schabt sie mit Messerchen,
wo wir meinen, beim Verschwinden des Körperhaften angelangt
zu sein, fräst sie die Übergänge des Fast-nicht-mehr
in Plexiglas. Die dabei entstandenen Radierungen sind nicht nur
anrührend, sondern auch mutwillig im besten Sinn des Wortes.
Die Ölbilder hingegen laden ein zur Meditation: Bald scheinen
wir in einer Unterwasserwelt am Ursprung des Lebens in allerlei
Aus- und Einstülpungen teilhaftig zu werden, dann wieder rotieren
wir tentakelfühlig, projektilbewehrt, düsenbetrieben und
durchaus kopulationsfreudig durch die Atmospähre. Wir? Ja,
wir. Denn wir sind eingetreten ins Bild und lassen uns nicht mehr
behaften: Die Formwelten von Hélène Kaufmann sind
Trägerinnen aller Tempi, aller Zeitläufe, aller Distanzen,
aller Geschlechter. Überaus körperhaft, und doch der direkten
Berührung sich entziehend. Verletzlich und unbekümmert.
Nur sich selbst verpflichtet.
- Wer mit Insekten auf Du und Du stehen
will, muss Humor haben. Dass Humor waltet in den Betrachtungsweisen
der beiden Gefeierten, werden Sie feststellen, wenn Sie nachher
umhergehen und sich beispielsweise ansehen, welche Kunstwerke Insektenstiche
auf der menschlichen Haut anrichten. Oder wenn Sie darüber
rätseln, wie 'paarzeilig verrutschte Knie’ aussehen mögen.
Oder wenn Ihnen zu den Radierungen in den Schaukästen menschliche
Namen einfallen, etwa: Ach sieh doch, der weise Theophil neben der
strickenden Gertrude!
- Wer mit Insekten ins Geschäft kommen
will, der und die muss der Verwandlung zugeneigt sein. Denn Insekten
leben prozesshaft. Ihr kurzes Erdenleben ist ein einziger Wandel
durch verschiedene Stadien der Existenz. Es geht über die Larve
zur Puppe bis hin zum Imago, dem angestrebten Endzustand. Von der
dumpfen Bewegungslosigkeit im Dunkel des Erdinnern übers jämmerliche
und gefrässige Kriechen auf Blattwerk bis zum schwerelosen,
farbenprächtigen Abheben hinauf in den Äther. Ein Einrollen,
ein Hochschnellen, ein Abschwirren. Wunderschön dargestellt
finde ich diese Wandlungsprozesse in den Langbildern Hélène
Kaufmanns. Das Suchen nach der neuen, der vielleicht endgültigen
Form, die sich aber wiederum nur als Übergangsstadium, als
Vorläufiges entpuppt, sich blindlings aus dem Rahmen katapultiert.
Das Nie-Endende, stets im Werden Sich-Befindende, mal so schlicht,
dann wieder in bestürzender Farbigkeit sich Zeigende.
Den Langbildern Hélène Kaufmanns
liegt ein Langgedicht von Monika Schnyder zugrunde. Wir werden es
zu hören bekommen. Es ist entstanden in Ägypten, diesem
Ursprungsland der Migration zwischen Leben und Tod und halbjährigem
Aufenthalt und Inspirationsort der Schriftstellerin. Ich habe es
viele male gelesen, um seinem versteckten Ton nachzuspüren.
Dieser 'Stille auf Stelzen’, diesen 'biegsamen Zeichen für
Nichts’. Was sprach da aus den spröden, dissozierten
Wortgeschieben zu mir? War es der beschwörende Impetus des
ägyptischen Unterweltsbuches Amduat? Ja doch, aber nicht ganz.
Eine Odysee durch mein Büchergestell begann: Ich zerrte die
lyrischen Fragmente der griechischen Dichterin Sappho hervor, blätterte
in den mystischen Texten der Hildegard von Bingen, im finnischen
Kalevala-Epos und fand nach Tagen der inneren Suche endlich einen
Hafen, wo ich andocken konnte: In der Neuzeit, sinnigerweise bei
'Ulysses’ von James Joyce. Und wie bereits bei Hélène
Kaufmann fragte ich mich: Sind Insekten Über-Setzerinnen in
die Welten des Darunter, Darüber oder Dahinter? Die ersten
und die letzten Mystikerinnen?
- Wer mit Insekten zu tun haben will, darf
die Ungewissheit nicht scheuen. Hélène Kaufmann-Wiss
und Monika Schnyder verfügen über die nötige Kühnheit,
sich auf einen Prozess einzulassen, der keine Vorlagen kennt. Sie
verfügen über die hartnäckige Neugier, sich auf die
Befragung nicht nur von diffizilen Tieren, sondern auch von Arbeiten
der Freundin aus der anderen Kunstsparte einzulassen und durch dieses
gegenseitige Frage- und Antwortspiel zu immer wieder neuen Formen
des Bildes oder der Sprache vorzustossen.
Meine Damen und Herren, Sie sehen, an der
Eignung der beiden Künstlerinnen zu ihrer Tätigkeit ist
nicht zu zweifeln. Ich suche nach einer Berufsbezeichnung, welche
beide Parteien, Insekten UND Künstlerinnen, beim Namen riefe.
Handelt es sich um digitale Analogistinnen?
Um mutwillige Sukzessivlinge, zentrifugierte Virtualistinnen, prozesstrümmlige
Metamorphistinnen, stachelbewehrte Weltallfinalistinnen –
wählen Sie selbst.
Christine Fischer, April 2006
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