Ruth Erat
Eine Welt
Stein liegt neben Stein.
Quarz.
Eine Phantomwelt.
Durchlässig.
Glatt.
Darin ein Meer, ein Traum, eine Geschichte aus tausend und einer
Nacht,
aus Jahrmillionen, aus Ablagerungen, Windwurf, Schaumgeborenem,
in der Hitze Geglühtem. Was auch immer – eine Welt.
Aus der Wüste ein Rotes.
Aus dem Wasser ein Blaues und ein Grünes.
Aus Silberadern Schimmerndes und Gezeichnetes.
Eins fügt sich zum andern, legt sich um den Hals.
Da ist geschliffenes Metall ein Strahlenkranz.
Hélène Kaufmann Wiss scheint sie leichthin zu finden,
diese Kostbarkeiten, diese Formen, diese Geschichten, diese Träume.
Da legt eine silberne Fläche einen Stadtplan aus – neben
dem Fluss
Schienenstränge, Strassen, Hausgevierte... Wer weiss?
Oder doch nur Muster, Zeichen? Oder Partikel des Lebens?
Oder eine dieser Formen, wie wir sie beim Blick durch ein Mikroskop
erkennen,
und die uns an etwas erinnern, das wir kennen, und das wir doch
nicht zu benennen vermöchten,
es sei denn, es fiele uns ein Lied ein oder eine Geschichte –
ein Stück Poesie.
Potisch sind die Bilder von Hélène Kaufmann Wiss.
Und sie erinnern uns.
Balanciert da nicht ein seltsames Getier auf tollkühnen High-Heels?
Gibt es da nicht eine dieser fremdartigen Pflanzen aus uralten Kinderbüchern?
Ist da nicht ein Wesen aus der dunkelsten Tiefsee geholt?
Schicht um Schicht sind die Farben aufgetragen und weggewischt,
miteinander verbunden, ineinander übergehend, von Spuren gezeichnet.
Und dazwischen liegen sie da, wie selbstverständlich, diese
Formen in ihren Farben.
Nichts scheint erzwungen.
Alles liegt leichthin neben dem andern in dieser fast selbstverständlichen
Verbindung,
die wir nur aus Träumen kennen.
Wer die Bilder von Hélène Kaufmann Wiss sieht, dem
ist klar:
Das ist eine Malerin, eine Poetin der Farben und Formen einer Natur,
die sich so nur hier,
in dieser Welt, zu zeigen vermag, in einem Kosmos entstanden durch
einen Blick auf diese Welt,
auf diese Dinge, der alles verwandelt, transformiert, transparent
werden lässt – immer gezeichnet
von den Ritzlinien der Zeit, den Spuren des Lebens. Die Oberfläche
ist verletzlich. Wir sind verletzlich.
Unsere Haut ist nicht so geschlossen, wie wir das meinen.
Was von aussen herkommt, dringt in die Tiefe. Da finden sich die
Zeichen des Lebens.
Hélène Kaufmann Wiss findet sie.
Das scheint ganz leicht.
Was daliegt, ist wie selbstverständlich zusammengekommen.
Dem ist natürlich nicht so.
Hélène Kaufmann Wiss arbeitet.
Arbeitend geht sie herum.
Arbeitend sieht sie auf den Weg, auf das, was vor uns liegt und
zurückbleibt:
Formen aus dieser Welt und aus jener. Ein roter Klettverschluss
und ein Phantomquarz, ein Grossstadtbild und silberne Schoten, die
sich golden aneinander gefädelt um einen Hals legen, Materialien
mit Einschlüssen und Spuren, Themen, die über Jahre hinweg
auftauchen, in diesem oder jenem eine Form finden, wenn da jemand
ist, der sie aufnimmt, sieht, ihre Sinnlichkeit wirken lässt,
die grossen Linien verfolgt, den Knäuel einer Geschichte aufrollt.
Als Schmudkgestalterin hat Hélène Kaufmann Wiss einen
Namen, der zur Welt der Kunst gehört. Was sie herstellt, ist
anderes als ein beliebig austauschbares Glanzlicht auf einer Hand.
Es sind Objekte, die in ihrer Form und Materialität wie Symbole
auftauchen.
Hélène Kaufmann Wiss lotet die Formen aus.
Da gibt es die Welt der Geometrie, der Kanten, der Flächen.
Da gibt es die Welt des Gewachsenen, der Natur.
Da gibt es die Welt der Mythen: Die im Feuer gewachsene Göttin,
die Geschichte von einer Urmutter, die wie ein Dorn im Holz sitzt
– Schmerzpunkt und Anfang zugleich.
Da liegen die Steine jener Meere, aus deren Schaum einst Götinnen
geboren wurden.
Da ziehen sich in der Tiefe Verwerfungsspuren hin und daneben liegt,
was wir gleich um die Ecke kaufen können, ein Verschluss aus
unserem Alltag.
So kommen die Dinge zusammen, und wir sehen uns selbst.
Da sind wir selbst:
Wir, die von der Sonne Bekränzten.
Wir, die wir aus einer harten, steinernen Welt kommen.
Wir, die wir Entkommene sind, Lebende mit diesem Ring, dessen Rot
leuchtet und in eine Tiefe hinableitet.
Da ist die Liebe. Und wir wissen, dass da auch der Tod ist.
Wer einen Schmuck von Hélène Kaufmann Wiss trägt,
ist ein Entkommener, eine Entkommene – gerade noch dem Schmerz
entkommen, gerade noch dem Alltag und der Oberfläche, gerade
noch der Tiefe, in der kein Weg mehr nach oben führt, gerade
noch diesem bitteren Ernst, der auf uns einschlägt. Man ist
herausgewachsen aus dieser reinen Oberflächlichkeit und aus
dem Loch der Depression. Es ist überstanden. Es ist nicht vergessen.
Die Spuren sind zur Poesie transformiert, zum Bild geworden, zum
Zeichen, zum Symbol, zu halsbrecherischen High-Heels, zu den silbernen
Schoten eines glänzenden Herbsts.
Mit diesem Schmuck ist man an einen anderen Beginn gekommen, einem
jenseits der Zeit, die uns auffrisst, jenseits der verbissenen Ernsthaftigkeit,
die kein Spiel zulässt und kein aufperlendes Lachen, jenseits
der Beliebigkeit, in der wir herumirren, bis nichts mehr, was uns
begegnet, etwas zu tun hat mit uns.
Was Hélène Kaufmann Wiss schafft, hat mit uns zu tun.
Und sie lässt uns auch tun. Aus den Kästen andere Bilder
heben, mit ihrem Schmuck dastehen und diese neue und erst eben glücklich
entstandene Königin sein, die mehr weiss von ihrem Leben als
sonst jemand, und die dennoch in dieser Sonne steht und Träumen
gegenüber, die es gibt, weil wir sie sehen.
Eine Welt jenseits unserer Verlorenheit an diese Welt, in der wir
Getriebene sind und Hintreibende, Schwatzende und Lärmende:
eine Welt des Findens.
Eine Welt des Findens – das wäre denn mehr als ein Traum.
Und da wäre mitunter ein aufperlendes Lachen.
Ruth Erat, September 05
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